„Denn um klar zu sehen, genügt ein Wechsel der Blickrichtung“ [3].
Der Mensch bildet sich, geprägt durch seine Rolle in sozialen Systemen und den gelebten und erlebten Kulturen in diesen, seine eigene Wirklichkeit. Eine selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit jedes einzelnen entsteht dadurch, weil Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart übernommen werden und weil jeder Mensch als Individuum an sich in seinem Wesen und Wirken einzigartig ist. Meine Erkenntnis daraus ist, dass nichts gleich ist.
Im systemischen Coachingansatz wird es dem Klienten in seiner Eigenverantwortung ermöglicht, „Gegenstände“ durch den Vorgang des Erkennens zu konstruieren. Dabei liegt der Fokus auf dem wechselseitigen Aufeinandereinwirken von Akteuren innerhalb eines Systems von zumindest zwei Personen. Indem Aussagen mit grundlegendem Wahrheitsanspruch in Frage gestellt werden und Entstehungsprozesse dadurch mehr Raum bekommen, werden neue Denkansätze ermöglicht, Sichtweisen erweitert und Veränderungsprozesse gefördert. In der systemischen Kommunikation wird nicht von Input und Output gesprochen, da der Mensch in seiner Individualität und als Teil von mehreren sozialen Systemen im Zusammenwirken seiner Sinne nie gleich reagieren würde und es für die Auswirkungen der Kommunikation auf ein oder mehrere Systeme kein fixes Modell gibt, nach dem ein bestimmtes Ergebnis berechenbar ist.
Da Menschen in sozialen Systemen keine trivialen Maschinen sind, sind auch die Regulationssysteme nicht eindeutig bestimmbar, nicht vorhersehbar, aber lern- und entwicklungsfähig. Im Umgang mit der ständigen Dynamik in Systemen müssen wir die Vielfalt der einwirkenden Faktoren und die Ausmaße ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten anerkennen und auch damit umgehen lernen. Ein Negieren von Differenzen kann beispielsweise zur Eskalation von Konflikten führen, welche, je nach Eskalationsstufe [1], oftmals ohne Einwirkung von außen nicht mehr gelöst werden können. Das Interesse an Differenzen innerhalb eines Systems, ohne den Fokus dabei ausschließlich auf Fehler und Schwächen zu legen, ist eine Basis für die positive Entwicklung jedes einzelnen und des gesamten Systems. Durch einen wertschätzenden Umgang verlieren die Aspekte von „Gewinnen“ oder „Verlieren“, „Richtig“ oder „Falsch“ an Bedeutung und sind auch für eine positive Weiterentwicklung irrelevant. Vielmehr sollte die Autonomie jedes einzelnen Anerkennung finden und das Erkennen der persönlichen Möglichkeiten, einen Beitrag für sich und dadurch auch das System bzw. die Systeme gestalten zu können, Raum finden. Dadurch wird auch das Differenzieren zwischen der Nützlichkeit und dem weniger gewünschten Ergebnis eigenverantwortlich angenommen und die Möglichkeit wahr genommen, die Probleme selbst zu lösen. In einen solchen Rahmen ist es auch möglich, aus einer Einzelmeinung eine Gruppenmeinung zu bilden. Das Wissen des Einzelnen und das individuelle Darstellen verschiedener Sachverhalte schafft eine „Gruppenintelligenz“, welche über der des Einzelnen steht. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen den jeweiligen Individuen in der Gruppe und darüber hinaus.
Im Zuge einer systemischen Beratung holt sich der „neugierige“ Coach Informationen durch Fragen und Beobachtungen. Systemische Interventionen haben das Ziel, Impulse für langfristige, nachhaltige Lern- und Erneuerungsprozesse zu ermöglichen. Die beschränkte individuelle Wahrnehmung des oder der Klienten wird dadurch erweitert und sie erfahren eine Stärkung in ihrer Rolle als Experten zur Lösungsfindung. Die Komplexität des Problems wird klar und der Klient kann sich aus seiner Problemtrance lösen. Interventionen des Coaches, die sich aus bestimmten Hypothesen [2] bilden, sind Erklärungsversuche, welche dem Klienten dabei helfen, Bekanntes mit Unbekanntem zu verknüpfen und neue Zusammenhänge zu konstruieren. Die Vielfalt an Information des Klienten erhält dadurch eine Ordnung, das Problem kann erfasst werden und ein lösungsorientiertes Denken wird wirksam. In diesem Prozess ist der Coach Experte für die Gestaltung des Prozesses und der Coachee Experte für die Inhalte und die Lösungsfindung. Ergo, die Lösung liegt immer im Klienten! Der Coach befindet sich mit dem Klienten in einer bewusst erlebten Balance zwischen Distanz und Nähe. Ein empathischer Umgang mit dem Coachee darf nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis führen. Ist der Coach vom Thema des Klienten persönlich betroffen und kann diese Betroffenheit nicht aushalten, oder ist selbst in die „Geschichte“ des Klienten verwickelt, so ist die notwendige Allparteilichkeit des Coaches nicht mehr gegeben. Es muss zwischen Coach und Coachee eine Neuorientierung der Rollen und Kompetenzen erfolgen. Der Coach darf nicht mit seinem Klienten gemeinsam durch den „Problemtunnel“ gehen und ihm dabei auch noch die Taschenlampe halten. Auch für den Coach ist es im Tunnel fast unmöglich, das Problem und die Lösung als Teil des Ganzen zu sehen. Einen notwendiger Perspektivenwechsel, um neue Ziel und Lösungsmodelle zu erkennen, wird dem Klienten dadurch erschwert.
Die Devise sollte lauten, nicht mit dem Klienten durch sein Tunnelsystem zu laufen, sondern den Berg als Ganzes zu sehen, den Klienten in seiner Lösungskompetenz zu respektieren, wenn notwendig, den Rhythmus der Kommunikation zu wechseln und dem Klienten einen Rahmen zu geben, in dem er sich erlaubt Alternativen wahrzunehmen. Aufgabe des Coaches ist es auch, mit dem Klienten gemeinsam eine Qualitätskontrolle seiner persönlichen Ziele durchzuführen. Folgende Punkte sollten dabei berücksichtigt werden:
- Ist die Zieldefinition einfach zu erfassen?
- Welche Indikatoren machen es möglich, dass die Umsetzung und Erreichung der Ziele auch wahrgenommen werden können?
- In welchen Zusammenhang steht und welche möglichen Auswirkungen hat die Zielerreichung auf weitere Systeme?
- Ist eine Zielerreichung realistisch?
- Bis wann soll das Ziel erreicht werden?
Es ist wichtig, dass sich der Klient mit seinem Ziel auch identifizieren kann und es ihm dann möglich ist, in seiner Lösung zu leben. Die Anerkennung darüber das Problem als Teil der begonnen Lösung zu sehen, erleichtert einen Wechsel der Blickrichtung und lässt neue Erkenntnisse entstehen.
[1] Glasl, Friedrich (2011). Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater: Phasenmodell der Eskalation (S. 233-302).Stuttgart: Haupt Verlag
[2] Entgegen der Meinung von Sonja Ratz (s.u.) bin ich davon überzeugt, dass es ohne Hypothesen nicht geht. Jede Frage ist ein Konstrukt meiner Assoziation. Nicht das Negieren von Hypothesen, sondern das Bewusstsein des Beraters, dass es sie immer gibt und der sensible Umgang damit helfen dabei, den Klienten in seiner Expertenrolle zur Lösungsfindung zu belassen.Ratz, Sonja (2009). Beratung ohne Ratschlag: Probleme brauchen keine Hypothesen des Coaches (S. 54-55). Wien: Verlag systemisches Management